Die Stressreaktion entsteht im Gehirn und wird durch die innere Bewertung äußerer Reize ausgelöst. Im Falle einer Aktivierung wird der Organismus “bis zur letzten Zelle” über das Nerven- und Hormonsystem in einen Alarmzustand versetzt. Die individuelle Form und das Ausmaß der Stressreaktion lässt sich mit den heute zur Verfügung stehenden Techniken zuverlässig messen.
Was versteht man unter einer “Stressreaktion”?
Die sog. Stressreaktion wurde vom Begründer der Stresskonzepts Prof. Hans Selye erforscht und erstmals beschrieben. Selye setzte Versuchstiere unterschiedlichen Extrembelastungen aus. Bei den Belastungen handelte es sich um Reize wie Infektion, Vergiftung, Trauma, nervöse Beanspruchung, Hitze, Kälte, Muskelanstrengung oder Röntgenstrahlung. Selye beobachtete eine unabhängig von der Art des Reizes immer gleich ablaufende körperliche Reaktion und bezeichnete diese unspezifische Reaktion auf Stress 1952 als „General Adaption Syndrome“.
Die körperliche Stressreaktion verläuft nach Selye in folgenden drei Phasen:
- Alarmreaktion (alarm reaction)
Sympathische Aktivierung, erhöhte Konzentration von Adrenalin und Noradrenalin, ACTH und Cortisol - Widerstandsphase (stage of resistance)
Erhöhung des Zuckerstoffwechsels, Steigerung der Empfindlichkeit der Gefäßmuskulatur für Adrenalin und Noradrenalin, Dämpfung von Schilddrüsen- und Sexualfunktion - Erschöpfungsphase (stage of exhaustion)
Zusammenbruch von Reproduktions- und Wachstumsfunktionen sowie der Infektionsabwehr, nur noch kurzzeitige Energiemobilisierung möglich, Vergrößerung der Nebenniere, Schrumpfung der Thymusdrüsen, Bildung von Magengeschwüren
Selye weist darauf hin, dass nur bei chronischen Belastungen alle drei Phasen durchlaufen werden, während die typischen Alltagsbelastungen meist nur die Alarmreaktion oder die Alarmreaktion und die Widerstandsphase auslösen.
Seit der Erstbeschreibung der Stressreaktion von Selye in den 50er Jahren wurde die Pathophysiologie der Stressreaktion immer weiter erforscht. So wurden die Untersuchungen von Selye vorwiegend an Versuchstieren durchgeführt und die Befunde sind aus heutiger Sicht relativ grob. Mit den heute zur Verfügung stehenden Untersuchungstechniken lässt sich die Stressreaktion deutlich differenzierter messen.
Stress entsteht im Gehirn
Der Einfluss von Stress auf körperliche und psychische Prozesse ist erheblich. Dabei entsteht Stress im Gehirn. Wenn die vorhandenen Bewältigungsmechanismen subjektiv nicht der anstehenden Herausforderung entspricht entsteht Stress. So kann ein und derselbe Reiz für die eine Person eine angenehme Herausforderung darstellen und für eine andere Person eine Bedrohung. So würde ein fremdsprachiger Vortrag vor einem Fachpublikum bei vielen Menschen Angst und damit Stress auslösen. Es gibt aber Menschen für die ein derartiger Vortrag keine relevante Belastung darstellt, dafür kraust es diesen Menschen möglicherweise vor dem abendlichen Gespräch mit der Ehefrau. Ein Gespräch mit der Ehefrau würde für einen anderen Menschen aber wiederum keine relevante Belastung darstellen. Stress ist also individuell.
Stress ist ein Ganzkörperphänomen
Unabhängig davon wie der Stress im Gehirn entsteht, führt Stress auf körperlicher Ebene zu verschiedensten Veränderungen. Letztlich ist Stress ein Ganzkörperphänomen von welchem die verschiedensten körperlichen und psychischen Prozesse beeinflusst werden. Auf psychischer Ebene führt Stress zu typischen Symptomen und Verhaltensänderungen. Auf körperlicher Ebene beeinflusst Stress vorwiegend das Hormonsystem, das vegetative Nervensystem und das Immunsystem. Über die Beeinflussung der verschiedenen Systeme führt Stress zu den unterschiedlichsten körperlichen und psychischen Symptomen. Oft wird der Zusammenhang zu Stress übersehen und es erfolgt gar keine oder nur eine symptomatische Behandlung. Unbehandelter Stress kann auf Dauer zu verschiedenen körperlichen und psychischen Erkrankungen führen. Auf körperlicher Ebene führt Stress bei entsprechender Anlage oft zu Magengeschwüren, Bluthochdruck und Zuckerkrankheit. Auf psychischer Ebene kann Stress zu einem Erschöpfungszustand und bei entsprechender Anlage zu einer Depression oder einer Angsterkrankung führen.
Auswirkungen von Stress auf Psyche und Verhalten
Es kommt zu Vergesslichkeit und Konzentrationsstörungen, Schlafstörungen, eingeschränkte Leistungsfähigkeit und Kreativität, nervösem unruhiges Verhalten, hastigem Sprechen und Essen, Ruhelosigkeit, Entscheidungsschwierigkeiten, Kommunikationsschwierigkeiten, Multitasking, innerer Unruhe, Aktivismus, mangelnder Planung, Unordnung, Schwierigkeiten im Zeitmanagement, „nicht fertig werden“, Arbeit mit nach Hause nehmen, Ineffizienz, Nicht-Abschalten-Können, Verzicht auf Urlaub, Reduktion der Freizeit, Vernachlässigung von Partnerschaft und Familie, Verzicht auf Bewegung, unkontrolliertem Essen und Rauchen, vermehrtem Alkoholkonsum, übermäßigem Kaffeegenuss, Einnahme von Schmerztabletten, Beruhigungsmitteln, Schlafmitteln und Aufputschmitteln, ständiger Sorge und „Zukunftsdenken“, sich gehetzt und unter Druck fühlen, Gedankenkreisen und Grübeln, nächtlichem Denken an berufliche Inhalte, Denkblockade („black out“), innerer Leere, Angst, Erschöpfung, innerer Unruhe und Anspannung, Reizbarkeit und Aggression, Stimmungsschwankungen, Unzufriedenheit und gedrückter Stimmung.
Auswirkungen von Stress auf das vegetative Nervensystem
Das vegetative Nervensystem durchzieht den ganzen Körper und beeinflusst verschiedene Organe wie das Herz, den Darm und die Haut. Das vegetative Nervensystem ist durch den Willen nicht beeinflussbar und heißt deshalb auch „autonomes Nervensystem“. Das vegetative Nervensystem besteht aus zwei Komponenten welche gleichzeitig aktiv sind. Ein Teil (der sog. Sympathikus) sorgt für Anspannung, der andere Teil (Parasympathikus) für Entspannung. Stress führt zu Anspannung und bei dauerhafter Anspannung „kippt“ das vegetative Nervensystem hierdurch in einen Modus der Überaktivierung des Sympathikus. Hierdurch kommt es zu Herzrasen, Blutdruckanstieg, beschleunigte Atmung, gereizten Magen oder Durchfall. Auf psychischer Ebene geht ein derartiger Erregungszustand mit einer Fokussierung der Aufmerksamkeit, einer erhöhten Reizbarkeit und Wachheit einher. Dies ist die Vorbereitung für einen bevorstehenden Kampf oder eine Flucht. Diese übermäßige Aktivierung ist für Körper und Psyche nur kurzfristig ohne Schaden. Auf Dauer führt die Überaktivierung zu verschiedensten körperlichen und psychischen Symptomen und Erkrankungen. In der Evolution war eine Stresssituation aber üblicherweise nur vorübergehend und hierdurch auch nicht schädlich. Heute halten Stresssituationen oft an. So kann sich eine Arbeitsplatzbelastung oder ein Beziehungskonflikt jeden Tag wiederholen. Früher konnten Ärzte auf die Aktivierung des vegetativen Nervensystems nur anhand der Symptome schließen. Seit wenigen Jahren ist es mit Hilfe der Bestimmung der Herzschlagvariabilität möglich den Aktivierungsgrad des vegetativen Nervensystems direkt zu messen. Das Verfahren ist jedoch technisch durchaus anspruchsvoll. Messung per App oder mit einfachen Brustgurten sind nicht aussagefähig. Die Ableitung muss immer mit mehreren Elektroden erfolgen da nur ein einzelner falsch gemessener Herzschlag (Artefakt) das Ergebnis um 450 % verändert. In meiner Praxis messe ich die Herzschlagvariabilität über 5 Minuten mit einem hochwertigen Gerät welches auch in der Forschung verwendet wird. Anschließend werden die Daten mit hochwertiger Software verarbeitet wodurch sich der Aktivierungsgrad des vegetativen Nervensystems sicher bestimmen lässt. In bestimmten Fällen empfehle ich auch eine Messung der Herzschlagvariabilität über Nacht.
Auswirkungen von Stress auf das Hormonsystem
Stress hat erhebliche Auswirkungen auf das Hormonsystem. Über einen komplexen Regelmechanismus des Gehirns führt Stress zu einer Ausschüttung von Cortisol aus der Nebennierenrinde. Unter hoher Stressbelastung kommt es zunächst zu einer vermehrten Freisetzung von Cortisol aus der Nebennierenrinde. Cortisol führt als Hormon zu zahlreichen körperlichen und psychischen Veränderungen wie Gewichtszunahme, Anstieg des Blutzuckers, Schlafstörungen und Reizbarkeit. Bei längerer Erhöhung von Cortisol kann es zu einer eingeschränkten Empfindlichkeit der Cortisol-Rezeptoren im ganzen Körper kommen. Zudem ist es möglich, dass die Nebennierenrinden nur eingeschränkt Cortisol produzieren. Dies nennt man Nebenniereninsuffizienz oder Morbus Addison. Die Nebenniereninsuffizienz kommt jedoch äußerst selten vor und ein Zusammenhang mit übermäßiger Stressbelastung wird in der Literatur nicht beschrieben. Das von Alternativmedizinern oft propagierte und mit fraglichen Methoden laborchemisch nachgewiesene Konzept der „adrenal fatigue“ ist deshalb beim heutigen Stand des Wissens nicht zielführend. Die Störungen der sog. HPA-Achse (Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenachse) sind deutlich komplexer. Es handelt sich in der Regel nicht einfach um eine „Schwäche der Nebennierenrinde“, sondern um eine komplexe Störung des hormonellen Regelkreises. Für eine Messung des Regelkreises muss am Vorabend eine kleine Dosis Cortison eingenommen und am nächsten Morgen die Cortisol-Aufwachreaktion gemessen werden (Dexamethason-Hemmtest). Insgesamt ist die Messung von Dysfunktionen der HPA-Achse mit heutigen Methoden zwar möglich aber durchaus aufwendig. Die meisten mir vorgelegten Laborbefunde sind Einzelmesswerte welche mit fraglichen Normbereichen. Für eine belastbare Messung müssen mindestens 6 Messungen pro Tag über zwei Tage durchgeführt werden. Die Ergebnisse sind dann auf qualitativ hochwertige Normwerte zu beziehen (Cortisol-Tagesprofil). Die Messung von Cortisol ist aufgrund der eingeschränkten Aussagekraft jedoch nur in Ausnahmefällen empfehlenswert. So empfehle ich die Messung von Cortisol meist nur bei diagnostisch unklaren Erschöpfungszuständen („chronic fatigue syndrome“). Neben der HPA-Achse beeinflusst Stress auch Wachstums- und Geschlechtshormone. So sinkt bei Affen im Tierversuch bei zunehmendem Stress durch zu hohe Dichte im Käfig das Testosteron mit resultierender Einschränkung der Fruchtbarkeit. Dies ist evolutionär ja für die Gruppe auch sinnvoll da bei zu hoher Populationsdichte zusätzliche Nachkommen für Knappheit und zusätzlichen Stress sorgen würden. Bei Frauen verschiebt oder verändert sich bei Stress oft die Regelblutung. Bei extremer Stressbelastung kann die Regelblutung auch ganz ausbleiben. Auch bei der Frau sinkt unter Stress die Fruchtbarkeit. Auch die Veränderungen der Geschlechtshormone lassen sich mit heutigen Methoden messen. Meist lässt sich aber auch ohne Messung aus den Symptomen auf die hormonellen Veränderungen schließen.
Auswirkungen von Stress auf das Immunsystem
Die Auswirkungen von Stress auf das Immunsystem sind erheblich. Nicht umsonst setzt man das Stresshormon Cortisol in Form von Cortison medizinisch zur Unterdrückung des Immunsystems ein. Die Zusammenhänge zwischen Stress und Immunsystem wurden Jahrzehnte von der Medizin gar nicht gesehen. Erst in den letzten 10 Jahren hat sich hier ein erhebliches Wissen angesammelt und sich das neue Spezialgebiet der Psychoneuroimmunologie entwickelt. Unter Berücksichtigung der heutigen Forschungsergebnisse sind Nervensystem und Immunsystem eigentlich gar nicht voneinander zu trennen. Das Immunsystem reagiert bei psychischen Veränderungen unmittelbar mit. So untererdrückt das Immunsystem unter Belastung üblicherweise die Immunantwort auf Krankheitserreger wie Viren und Bakterien. Es ist ja auch nicht sinnvoll unter Fieber und Krankheitsgefühl zu leiden während man mit einem Säbelzahntiger kämpft. Die Immunantwort kommt erst nach Ende der Stressbelastung in der Phase der Erholung. So wundern sich zahlreiche Patienten, dass sie nicht während der Stressbelastung, sondern erst im anschließenden Urlaub krank wurden. Dauerhafter Stress kann aber noch deutlich bedrohlichere Folgen haben als Infektionskrankheiten in Phasen der Erholung. Auf Dauer kann Stress zu einer übermäßigen Immunantwort oder einer fehlerhaften Immunantwort führen. So kann Stress bei entsprechender Anlage zu Autoimmunkrankheiten, Allergien und Krebserkrankungen führen. Diese Zusammenhänge sind vielen genau beobachtenden Ärzten seit Jahrzehnten und Jahrhunderten bekannt. Die Psychoneuroimmunologie entschlüsselt nun aber den dahinterstehenden Mechanismus. Als Allergologe und Facharzt für Psychosomatische Medizin bestimme ich bei entsprechenden Fragestellungen auch bestimmte Immunparameter um die Funktionsfähigkeit des Immunsystems und die daraus entstehenden gesundheitlichen Risiken besser einschätzen zu können.
Lässt sich die Stressreaktion „bremsen“?
Dies ist eine häufige Frage. Bereits eingetretene körperliche Erkrankungen wie ein manifester Bluthochdruck oder eine Zuckerkrankheit lassen sich oft nicht mehr im Sinne einer Heilung beeinflussen. Hier besteht die Zielsetzung das Fortschreiten der Erkrankung und das Auftreten von anderen Erkrankungen zu verhindern. Auch bei Allergien und Autoimmunerkrankungen gibt es nicht wirklich „einen Rückwärtsgang“. Symptome wie Herzrasen, Atemnot, Kopfschmerzen oder Rückenschmerzen bilden sich jedoch regelhaft nach erfolgreichem Stressabbau auch tatsächlich vollständig zurück. Eine Heilung ist also am ehesten möglich so lange es sich noch um Symptome und nicht um Erkrankungen handelt. Ähnlich verhält es sich mit den mit Stress in Verbindung stehenden psychischen Erkrankungen. So heilt ein durch Stress verursachter Erschöpfungszustand nach erfolgreichem Stressabbau meist folgenlos aus. Eine durch Stress ausgelöste Depression ist hingegen deutlich schwerer und langwieriger zu behandeln. Bei stressbedingten Symptomen und Erkrankungen sollte deshalb möglichst früh und möglichst ursächlich in den Krankheitsprozess eingegriffen werden. Bei Stress aufgrund von ADHS empfiehlt sich meist auch eine medikamentöse Behandlung.